Sonntag, 18. Februar 2024

Krank - selbst schuld?

Junge Frau macht Yoga


Für die einen startet der Morgen schon mit einem Blick auf die Smartwatch, die den Schlaf trackte und auswertet hat. Ein achtsames und natürlich ausgewogenes Frühstücken, um Stress so gut wie möglich zu kompensieren, ist so selbstverständlich wie das tägliche Sportprogramm. 

Abends folgt noch das obligatorische Online-Coaching zur Persönlichkeitsentwicklung, um den typischen Tag des Selbstoptimierers zu repräsentieren.


Für andere besteht das Sportprogramm höchstens aus E-Sports, der Sportschau mit einer Tüte Chips und einem Bier.



Was, wenn gesundheitsförderliches Verhalten so gar nicht zum persönlichen Lebensstil gehört? Sind wir dazu verpflichtet, uns möglichst gesundheitsförderlich zu verhalten? 

Ist man selbst schuld an Erkrankungen, die auf einen bestimmten Lebensstil zurückzuführen sind, also auch beispielsweise an Sportunfällen? Wäre es gerecht, wenn man die dadurch entstehenden Kosten selbst tragen müsste?


Das Streben nach einer möglichst guten Gesundheit ist ein weltweit wachsender Megatrend geworden und Teil unserer Selbstoptimierungskultur. Im Bereich der Gesundheit lässt sich nahezu alles noch besser und gesünder machen. 


Es ist im Grunde im Interesse aller Menschen, möglichst gesund zu sein.  

Auch die Gesundheitspolitik setzt immer mehr auf Eigenverantwortlichkeit, Behörden und Krankenkassen starten Kampagnen, die im Grunde die Botschaft vermitteln „Du hast es selbst in der Hand, gesund zu bleiben“. 

Im Umkehrschluss verkörpern Fehlernährung, Alkohol, Bewegungsmangel und Tabak alles, was für die Entstehung von Krankheit verantwortlich gemacht wird: Faulheit, Disziplinlosigkeit und Nachlässigkeit.


Sind wir verpflichtet, uns mit vollem Einsatz gesundheitsförderlich zu verhalten? Erwartet das die Gesellschaft von uns, damit wir dem Sozialsystem nicht zur Last fallen? Wer trägt die „Schuld“ für eine spätere Erkrankung? Der Staat? Die Allgemeinheit? Oder das Individuum? 


Seit 2017 gibt es in Deutschland ein Präventionsgesetz der Krankenkassen. Darin ist festgehalten, dass die Ausgaben für Vorbeugemaßnahmen deutlich erhöht wurden und für gesundheitsförderliches Verhalten Bonuszahlungen an die Versicherten ausgezahlt werden können.  


 






Doch einen evidenzbasierten Nachweis dafür, dass die Investition in individuelle Verhaltensmaßnahmen zielführend ist, gibt es nicht. Kritiker sagen sogar, dass es am wenigsten zielführend sei, in diesen Bereich zu investieren.

Dem Einzelnen die Verantwortung für seinen gesundheitlichen Zustand zuzuschreiben, widerspricht dem aktuellen sozialepidemologischen Forschungsstand: 

 

Es ist empirisch belegt, dass nicht die persönliche Leistung für den individuellen Gesundheitszustand ausschlaggebend ist, sondern seine soziale Lage.


Mit Ausnahme von Brustkrebs und Asthma sind alle Erkrankungen bei Menschen mit niedrigem sozialen Status häufiger. 

Auch die gesundheitliche Selbstoptimierung ist nicht in allen, sondern vor allem in hohen sozialen Lagen verbreitet. 

Nicht, weil Menschen dieser Schichten vernünftiger sind, sondern weil sie mehr Möglichkeiten haben, sich gesundheitsförderlich zu verhalten. Und: Weil sie mehr Mitspracherecht haben, festzulegen, was als gesund oder ungesund gilt. 

Schlechter Schlaf, sich zu überarbeiten oder auf Autobahnen zu rasen werden weniger getadelt als Übergewicht oder Rauchen. 


Wäre es unter diesen Gesichtspunkten gerecht, mit der Begründung der Eigenverantwortlichkeit solidarisch finanzierte Gesundheitsleistungen einzuschränken?


Nehmt ihr am Bonusprogramm eurer Krankenkasse teil? Findet ihr es unter den genannten Gesichtspunkten fair, dass die Krankenkassen Geldprämien an gesund lebende Menschen auszahlen, z.B. bei Normalgewicht oder an Nichtraucher:innen? 


Viele Grüße 

Ann-Christin


Quellen: 


Abbildungen: