Montag, 3. Juni 2019

Der Kampf gegen die Maschinen



oder: ein Aufruf zum Weiterdenken und -handeln 

Ein Beitrag von Annika Malin Riediger

In diesem Blogeintrag wird unser heutiger Umgang mit Wissensvermittlung und der Fokussierung der Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden kritisch betrachtet. Dabei werden folgende Themengebiete angesprochen: Exekutive Funktionen und welche Rolle sie spielen (sollten); Lebensqualität, Wohlbefinden und psychische Gesundheit in der Schule; das finnische Bildungssystem. 

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Im Frühjahr 2018 erregte der derzeitige Vorstandsvorsitzende des chinesischen Internetkonzerns Alibaba, Jack Ma auf einer Presse-konferenz (Link siehe rechts) mit folgender These viel Aufsehen: Im Jahr 2030 werden ungefähr 800 Millionen Jobs von Robotern übernommen. 
Abbildung 1 - Link zum Video
Dabei beruft er sich auf die Ergebnisse einer spekulativen und fast schon apokalyptischen Studie des McKinsey Global Institutes. 

Ziel des Blogbeitrags ist, mit anderen (angehenden) Lehrpersonen in einen Diskurs zu treten, um über die Aussagen von Herrn Ma und der Studie des McKinsey Global Institutes in einen Austausch zu treten. Es soll herausgearbeitet werden, ob ein Ruck durch unser Bildungssystem gehen sollte und – wenn ja – welche Veränderungen unser Bildungssystem vertragen würde. Dabei sollen vor allem folgende Themen angesprochen werden: (a) der Stellenwert der exekutive Funktionen in der Lehrerausbildung und letztlich im Schulalltag, (b) der Stellenwert der Persönlichkeitsentwicklung im Schulalltag und (c) die Garantie der psychischen Gesundheit der Lernenden. 

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Im Folgenden sind die Kernaussagen aus dem Video kurz zusammengetragen: 
  • Maschinen sind schlauer als Menschen. Man kann den Kindern nicht beibringen mit ihnen in Konkurrenz zu treten. 
  • Die Voraussetzungen für die Arbeit, die von Maschinen erledigt werden kann, werden in der Schule – seit mehr als 200 Jahren – für die Menschen geschaffen. 
  • Der heutige Lehrinhalt ist veraltet, weil er auf Wissen basiert. 
  • Lehrpersonen müssen aufhören, lediglich Wissen zu vermitteln. 
  • Lernen Kinder etwas Einzigartiges, sind sie Maschinen überlegen. 
  • Einzigartigkeit zeichnet sich durch (a) Wertevorstellung, (b) Überzeugungen, (c) unabhängiges Denken, (d) Teamwork und (e) Empathie aus. 
  • Die Einzigartigkeit entsteht nicht durch reine Wissensvermittlung. Die Unterrichtsfächer Sport, Musik und Kunst tragen hauptsächlich dazu bei, dass Menschen einzigartig bleiben. 
  • Sobald Maschinen eine Tätigkeit besser verrichten können, als wir Menschen, werden sie uns darin ersetzen. 
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800.000.000 Jobs?! – Ist das denn möglich? 

Um einen Zugang zu den Zahlen zu bekommen, von denen Herr Ma in der Pressekonferenz sprach, möchte ich versuchen, einen Zusammenhang zwischen der Weltbevölkerung und den Erwerbstätigen weltweit in den Jahren 2014 und 2030 herstellen. 
Die Tabelle unten gibt einen kurzen Überblick. Ich möchte kurz erläutern, wie die Zahlen zustande kommen. Die Angaben aus dem Jahr 2014 sind alle offiziell bekannt (vgl. Süddeutsche 2014; BASF o.A.; Weltagrarbericht 2016). Bei einer Gesamtbevölkerung von 7,3 Milliarden Menschen waren mit 3,25 Milliarden 44,52% aller Menschen weltweit berufstätig. 

Jahr 
Weltbevölkerung 
Erwerbstätige weltweit 
2014 
7,3 Milliarden 
3,25 Milliarden 
2030 
8,55 Milliarden 
3,81 Milliarden 

Die Prognose für die Weltbevölkerung im Jahr 2030 kann eingesehen werden (vgl. Statistica 2019). Angenommen der Anteil der Erwerbstätigen bleibt weltweit identisch, würden 2030 3,81 Milliarden Menschen weltweit berufstätig sein. 
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 21% der Jobs 2030 von Robotern übernommen werden würden – dabei sind jedoch zahlreiche Einflussfaktoren nicht berücksichtigt. Die neueste Studie des McKinsey Global Institutes versucht alle Faktoren zu berücksichtigen und geht schlussendlich davon aus, dass im Jahr 2030 bis zu 50% aller Jobs von Robotern ausgeführt werden (vgl. Manyika et al. 2017)! 

„Powerful new technologies are increasing productivity, improving lives, and reshaping our world. But what happens to our jobs?“ (ebd.) 

In allen beruflichen Sektoren ist bereits heute ein Wandel zu erkennen: In der Landwirtschaft wird die Stall- und Feldarbeit per App überwacht und die Einführung von Robotern und vollautonomen Landmaschinen ermöglichen präzise Arbeit im modernen Ackerbau (vgl. Brückner 2018, Schaal 2014). In der Automobilbranche und vielen anderen Branchen ermöglichen Automatisierung, Roboterisierung und der Ausbau der künstlichen Intelligenz Zustände wie im Science Fiction Film. Dahingegen ist in sozialen Arbeitsfeldern, wie z.B. in der Kinder- und Altenbetreuung mit weniger Automatisierung zu rechnen – gut für uns als angehende Lehrpersonen (vgl. Rötzer 2017). 

Zwischenfazit: 800.000.000 Jobs – ist das denn möglich? Ja, ist es. Zwar ist die Studie des McKinsey Global Institutes spekulativ, dennoch scheint es naheliegend, „dass Menschen ihren Job an die Konkurrenz der intelligenten oder irgendwie besseren, jedenfalls billigeren Maschinen übergeben müssten.“ (Rötzer 2017). 

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Was bedeutet das alles nun für uns? 

Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt angedeutet, sind soziale Arbeitsfelder weniger von der Automat-isierung, Roboterisierung und dem Ausbau der künstlichen Intelligenz betroffen. Die Ergebnisse der Studie des McKinsey Global Institutes zeigen deutlich, dass unser zukünftiger Beruf sehr wahrscheinlich bis 2030 nicht so ohne weiteres zu ersetzen sein wird. Dennoch ist ein Entwicklungsschritt im Umgang mit dem Lehren Heranwachsender unbedingt notwendig. Die Studie aus dem Jahr 2017 belegt, dass Menschen zukünftig in Arbeitsbereichen tätig sein werden, in denen emotionale und soziale Kompetenzen und andere höhere kognitive Fähigkeiten Bedingung sind (vgl. Manyika et al. 2017). 

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Abbildung 2

Diese höheren kognitiven Fähigkeiten findet man im menschlichen Körper beispielsweise in den exekutiven Funktionen. Bei diesen handelt es sich um kognitive Fähigkeiten, die unsere Handlungen unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt planen, überwachen, regulieren und kontrollieren. Sie sind in das Arbeitsgedächtnis, die Inhibition und die kognitive Flexibilität gegliedert (vgl. Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung 2016). 
Der Sitz der exekutive Funktionen, der präfrontale Cortex gilt im menschlichen Gehirn als Sitz der Persönlichkeit. Allgemein besitzen die exekutiven Funktionen einen großen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen (vgl. Ley 2011; Walk 2011: 28). An dieser Stelle sollen die exekutiven Funktionen wissenschaftlich nicht vertiefend beschrieben werden. Bei Bedarf und Interesse sei auf das Buch von Sabine Kubesch (2014) hingewiesen, das einen umfassenden Einblick in die Thematik gibt. 


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Exekutive Funktionen in der Schule 

Es stellt sich die Frage, inwiefern die höheren kognitiven Fähigkeiten in der Schule gefördert werden – um dies im Anschluss umfassend diskutieren zu können, werfen wir einen Blick in den Bildungsplan in Baden-Württemberg und gleichen den Inhalt anschließend kurz mit der Bildungsrealität ab: 

Der Kanon des Lernens, der Bildungskanon, der Lehrplan, der Bildungsplan – Wir sind alle damit vertraut, welche Funktion der Lehrplan hat: „Der Lehrplan gibt an, was in der Schule gelten soll, und so muss jeder Faktor des geistigen Lebens, jede Gruppe der Gesellschaft, jede Anschauung, die dauernd und in der Breite auf die Jugend innerhalb von Schule und Lehre wirken will, versuchen Anerkennung und Geltung in den geltenden Lehrplänen zu erhalten.“ (Weniger 1952: 22). 

Der Bildungsplan wird regelmäßig weiterentwickelt und an die Faktoren des geistigen Lebens und an die An-schauungen, „die dauernd und in der Breite auf die Jugend innerhalb von Schule und Lehre“ (ebd.) wirken sollen, angepasst. Jack Ma sieht in den Unterrichtsfächern: Sport, Musik und Kunst die Fördermöglichkeiten für die Einzigartigkeit der Menschen. Und tatsächlich ist wissenschaftlich belegt, dass die von Jack Ma genannten Unterrichtsfächer bei der Entwicklung der exekutiven Funktionen ausschlaggebend sind (vgl. Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung 2016). 

Tatsächlich werden die exekutiven Funktionen im Bildungsplan Baden-Württemberg der Grundschule erwähnt: Und zwar im Anhang für das Fach Bewegung, Spiel und Sport (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg). Es wird darauf hingewiesen, dass die exekutiven Funktionen „eine wichtige Grundlage für Entwicklungsprozesse und den Lernerfolg“ (ebd.) darstellen. Außerdem werden dort einige Spiele zur Förderung der exekutiven Funktionen erwähnt – diese sind „bis zum Ende der Grundschulzeit verbindlich“ (ebd.) zu spielen. 

In den anderen Unterrichtsfächern wird jedoch nicht explizit auf die entwicklungsfördernden exekutiven Funktionen eingegangen – wenngleich sie selbstverständlich auch fächerübergreifend gestärkt werden können. Darauf soll zu einem späteren Zeitpunkt erneut Bezug genommen werden. 

Mit einem weiten Blick in die Zukunft stellt sich mir die Frage, ob die Unterrichtsfächer, die die Einzigartigkeit der Lernenden schützen und fördern, ausreichend in Fokus genommen werden. Tatsache im heutigen Schulalltag ist doch, dass eher eine Sport-, Musik- oder Kunststunde entfällt, bevor eine Schulstunde Deutsch oder Mathematik in der Woche fehlt (vgl. Allgöwer 2016). Auch nicht selten wird der Klasse als Sanktion für ihr ‚schlechtes Benehmen‘ der Sport- oder Musikunterricht gestrichen. Ich habe so etwas auf jeden Fall – sowohl als Schülerin als auch als Praktikantin – erlebt. 

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Bedeutsam für diesen Blogeintrag ist: Laut den Ergebnissen der Studie, auf die sich Jack Ma in der Pressekonferenz bezieht, soll in der Schulbildung die Persönlichkeitsentwicklung fokussiert werden. Davon ausgehend, dass die exekutiven Funktionen genau diese fördern, sollen einige Beispiele zur Förderung genannt werden. Wie bereits erwähnt, kann die Förderung auch fächerübergreifend stattfinden: 

Zum Beispiel wird das Arbeitsgedächtnis durch tägliches Kopfrechnen trainiert, die Inhibition, die für die Selbst-kontrolle und –beherrschung zuständig ist, durch das Anregen von Selbstreflexion, zum Beispiel im Klassenrat und die kognitive Flexibilität, also das schnelle Umdenken und Reagieren auf kurzfristige Veränderungen beispielsweise durch ein Angebot an unterschiedlichen Arbeitsformen (vgl. Kubesch 2014). 

Grundkonsens aller Fördermöglichkeiten ist, den Lernenden die Chance zu geben, sich vielfältig, regelmäßig und ohne Zeitdruck an neuen und herausfordernden Situationen zu erproben (vgl. ebd.: 28). So kann eine Förderung der sozialemotionalen Entwicklung stattfinden und damit im weiteren Sinne die Persönlichkeitsbildung, die bislang nur einen Platz im Anhang des Bildungsplans eines Unterrichtsfachs ‚verdient‘ scheint zu haben. 

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Garantie der Lebensqualität 

Ist ein Wandel notwendig? Ist jetzt die Zeit? Wie soll dieser aussehen? Wie wird dieser herbeigeführt? Und: Wie weit werden die Veränderungen reichen? 

Für mich steht fest, dass sich schon lange ein Wandel in der Gesellschaft ankündigt. Veränderungen sind für die Menschheit nichts Neues. Gegebenheiten und Bedingungen wandeln sich – Erfindungen machen das Leben leichter und erfordern dann im gleichen Maß Anpassungsfähigkeit und Flexibilität im Denken und Verhalten der Menschen. 

Mit der Übernahme von Robotern und Maschinen, muss sich in der Schulausbildung der Blick auf die Förderung der Persönlichkeit richten. Nur so können Lebensqualität und Wohlbefinden ausgebaut und garantiert werden. 

Bullinger und Levke Brütt beschäftigen sich in ihrem Beitrag in Psychologie in der Gesundheitsförderung (2018) ausführlich mit den Begriffen Lebensqualität und Wohlbefinden. 

Dort wird Lebensqualität nach der WHOQOL-Group folgendermaßen definiert: „Lebensqualität ist die Wahrnehmung einer Person über ihre Position, vor dem Hintergrund der Kultur und des Wertesystems, in dem die Person lebt, und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen.“ (Bullinger & Levke Brütt 2018: 156 nach WHOWOL-Group, 1993). Die Lebensqualität eines Menschen wird also sowohl über strukturelle als auch über personelle Indikatoren ermittelt. 

In der operationalen Definition nach Bullinger, Ravens-Sieberer und Siegrist (2000) handelt es sich bei der Lebensqualität um ein multidimensionales Konstrukt, das sich aus körperlichen, emotionalen, mentalen, sozialen und alltagsfunktionalen Komponenten zusammensetzt (vgl. Bullinger & Levke Brütt 2018: 156). Hinzu kommen die Determinanten, wie beispielsweise personale Charakteristika und Lebensbedingungen, die die individuelle Lebensqualität bezeichnen. Das Wohlbefinden ist in der operationalen Definition als erlebte Befindlichkeit Teil der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die psychische Gesundheit – die in der Schullaufbahn von großer Bedeutung ist (vgl. Mittag & Schaal 2018; Mortag 2012: 28ff.). 

Psychische Gesundheit wird als „Fähigkeit, sich kompetent mit den gesellschaftlichen Anforderungen auseinandersetzen zu können und im Leben auch eigene Wünsche, Bedürfnisse und Hoffnungen konstruktiv zu verwirklichen“ definiert (vgl. Paulus 2017) und kann somit dem psychischen Wohlbefinden zugeordnet werden. 

Zwischenfazit: Es wird deutlich, dass die Begriffe Lebensqualität, Wohlbefinden und psychische Gesundheit eng miteinander verbunden sind und einen erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeit(sentwicklung) nehmen. Damit schließt sich an dieser Stelle der Kreis, weshalb der bevorstehende Wandel die empfundene Lebensqualität und damit die psychische Gesundheit beeinflussen wird. 

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Psychische Gesundheit in der Schule 

Paulus hält fest, dass Schülerinnen und Schüler dann psychisch gesund in der Schule sind, wenn sie (a) „sich durch die intellektuellen und sozialen Anforderungen des Unterrichts und des Schullebens angemessen gefordert fühlen – dies nennt er Aspekt der Produktiven Anpassung. Und (b) wenn „sie sich mit eigenen Ideen, Wünschen und Vorstellungen in den Unterricht und in das Schulleben einbringen können – er spricht von Aspekt der Selbstverwirklichung (vgl. Paulus 2017). 

Daraus ist zu schließen, dass die psychische Gesundheit einen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung hat (vgl. Paulus 2014: 2) – und im Umkehrschluss auf die von Jack Ma angesprochene Einzigartigkeit

Um die Einzigartigkeit aller Lernenden zu erhalten gilt es die psychische Gesundheit zu schützen. In der Schule sollte der Schwerpunkt also auf die Persönlichkeitsentwicklung gelegt werden, die zum Großteil durch die exekutiven Funktionen gefördert wird. 

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Sie machen es vor – Finnland 

Im letzten Abschnitt des Blogbeitrags möchte ich gerne auf das Bildungswesen in einem Land eingehen, das 2015 bei der PISA-Studie im Durchschnitt der drei erhobenen Bereiche: Naturwissenschaften, Lesen und Mathematik weltweit den achten Platz und in Europa den zweiten Platz belegte (vgl. OECD 2015: 5). Bei der Erhebung zu dem Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler belegte Finnland weltweit Platz vier (vgl. ebd.: 16). 

Mitte der 60er Jahre ist ein Ruck durch die finnische Bildungspolitik gegangen (vgl. Wernicke 2006: 1): Das dreigliedrige Schulsystem wurde abgeschafft und stattdessen die einheitliche Gesamtschule vom siebten bis zum fünfzehnten Lebensjahr eingeführt (vgl. Ministry of Education and Culture et al. 2016: 3). Mit dem einheitlichen System wurden auch neue Ideen getestet, um die Qualität von Bildung im Land zu verbessern – die Ergebnisse der PISA-Studie beweisen, dass dies gelungen ist. 

⌂ Das finnische Bildungswesen legt viel Wert darauf, die Schülerinnen und Schüler auf das Leben in all seinen Facetten vorzubereiten: es wird gebacken, genäht, gesungen, getanzt, geklettert, gelesen, musiziert, gemalt und gebastelt, entdeckt. Das Wichtige dabei ist, dass die Kinder und Jugendlichen alles intrinsisch motiviert tun! Es ist in der Motivationspsychologie wissenschaftlich belegt und schon lange kein Geheimnis mehr, dass die intrinsische Motivation positiv mit dem Lernerfolg korreliert (vgl. Roth 2016). 

⌂ In Finnland geht es im Schulalltag darum, dass die Schülerschaft lernt, ihr Hirn zu benutzen: Sie sollen selbstständig und kritisch denken, den Lerninhalt hinterfragen und bekommen in dem Lernprozess ein großes Maß an Mitspracherecht – wenn man so möchte „Macht“ – zugesprochen. Das ermöglicht Begegnungen mit Respekt. Da ist es selbstverständlich, dass die Persönlichkeit genug Raum hat, um sich zu entwickeln. 

⌂ Ein weiterer Faktor, den das finnische Schulsystem auszeichnet ist, dass alle Schulen kostenfrei und gleichgestellt sind – sie werden auf kommunaler Ebene finanziert und von allen Kindern besucht. So entsteht kein Konkurrenzkampf zwischen den Schulen und man kann sich auf das Wesentliche – nämlich die qualitativ beste Ausbildung der Heranwachsenden konzentrieren. 

⌂ Das finnische Bildungssystem agiert nach dem Motto: „Weniger ist mehr.“ – es scheint als wären die Finninnen und Finnen besser, indem sie weniger in die Schule gehen. Das System ist nicht wie bei uns föderalistisch aufgebaut, sondern landesweit einheitlich. Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist das Schuljahr in Finnland mit 190 Tagen sehr kurz (vgl. Ministry of Education and Culture et al. 2016: 17). Dennoch erbringen finnische Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich Bestleistungen. 

⌂ Lernen benötigt Zeit – das Gehirn braucht Entspannungsphasen, um das neue Wissen verarbeiten zu können. Darauf weist auch die Neurodidaktikerin Magret Arnold in ihrem Buch ‚Kinder denken mit dem Herzen‘ mehrfach hin (vgl. Arnold 2011). Dies scheint das skandinavische Land begriffen zu haben und zu realisieren. 

⌂ In Finnland wird von standardisierten Leistungserhebungen im Land abgesehen – das nimmt den Lehrpersonen viel Druck und Zwang (vgl. Ministry of Education and Culture et al. 2016: 16). Stattdessen konzentriert man sich auf Glück und Zufriedenheit. Die Lernenden sollen erfahren, was sie glücklich macht und was bzw. wer sie im Leben sein möchten. 
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Gleichwohl bleibt auch das finnische Schulsystem vor Problemen nicht verschont, wie Jens Wernicke (2006) in seinem Aufsatz anmerkt: „Auch in Finnland kann man nicht voraussetzen, dass Kinder stets mit Freude in die Schule gehen, Lehrerinnen und Lehrer gleich gut mit den häufig wechselnden Anforderung des pädagogischen Alltags zurechtkommen und Schulen immer pädagogisch sinnvoll auf das reagieren, was von ihnen abverlangt wird. Auch in Finnland machen es sich Eltern bisweilen recht leicht, indem sie ihre Kinder in der Schule abgegeben und die Erziehung ausschliesslich den Lehrern überlassen.“ (Wernicke 2006: 3). Durch die Bildungsreform haben sich mittlerweile jedoch Prozesse so eingespielt, dass sie keine zusätzliche Belastung für die Lehrpersonen darstellen – Netzwerkarbeit und kollegiale Beratung gehören zu ihrem Arbeitsalltag (vgl. ebd.: 3f.). 

Durch das inklusive System, dass alle Kinder gemeinsam die achtjährige Gesamtschule besuchen und die Schwerpunktsetzungen auf (a) die Förderung der Sozialkompetenz oder wie Jack Ma sagte ‚Teamwork‘, (b) die Unterrichtsfächer Musik, Sport und Kunst, (c) die große Bereitschaft Partizipationsmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler zu schaffen und (d) die Zielsetzung selbstständig und kritisch denkende junge Menschen auszubilden, erscheint das Konzept zumindest in meiner Vision voller Potenziale und Erfolge für alle Beteiligten. 
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Und ganz aktuell schafft ein neuer Bildungsplan in Finnland einen erneuten Umbruch. Dieser trat 2016 in Kraft. Wenngleich er nicht ansatzweise so drastisch ist wie vor 50 Jahren, bringt er dennoch einige Umstrukturierungen: Es wird nun noch mehr auf die Offenheit im Unterricht selbst gesetzt. Der Unterricht muss nicht mehr in den üblichen vier Wänden stattfinden, sondern jedes Kind darf wählen wo und wie es lernen möchte – auch hier kristallisiert sich nochmal sehr stark der Gedanke der Partizipation heraus (vgl. Lehtniemi 2016). 

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Fazit 

Finnland vernachlässigt kein Unterrichtsfach – das beweisen die PISA-Ergebnisse aus den letzten 15 Jahren. Es versteht Schule allerdings als einen Ort, an dem Heranwachsende die Chance bekommen, die eigene Persönlichkeit zu entdecken und zu formen. Den Unterrichtsfächern Musik, Kunst und Sport werden ein hoher Stellenwert zugesprochen. Genau das sind die Unterrichtsfächer, die– laut den Ergebnissen der McKinsey Studie – unsere Einzigartigkeit weiterentwickeln. Und diese Einzigartigkeit benötigen wir spätestens in elf Jahren, um uns von den Robotern und Maschinen zu differenzieren. 

Finnland garantiert mit seinem Bildungswesen die hohe Qualität der psychischen Gesundheit der jungen Men-schen. Denn die Aspekte der produktiven Anpassung und Selbstverwirklichung nach Paulus (2017) werden durch die Offenheit innerhalb des Systems auf vielen Ebenen gesichert. 

Wir müssen aufhören, Maschinen ausbilden zu wollen – diese werden in wenigen Jahren durch unnahbare und reale Maschinen ersetzt. Im zukünftigen Bildungsplan muss der Schwerpunkt noch mehr auf die Entwicklung der Persönlichkeit gesetzt werden. Und das beruhigende ist: Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, sondern weiterdenken und -handeln. Meines Erachtens sind wir auf dem richtigen Weg, dennoch muss ein Bewusstsein für die Lehrinhalte und Unterrichtsfächer präsent sein, die uns auf lange Sicht persönlich weiterbringen. Und es ist doch beruhigend zu wissen und zu sehen, dass es funktionieren kann: Kinder, Kinder sein zu lassen, ihnen die nötige Zeit zum Lernen von Dingen zu geben, die sie in ihrer Identitätsfindung unterstützen. 

Es geht nicht darum gegen die Maschinen in einen Kampf zu ziehen, sondern das eigene Handeln weiterzu-entwickeln, mit der Zeit zu gehen um die psychische Gesundheit und damit die Einzigartigkeit eines jeden zu garantieren. 

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Impulse: 

(1) Gibt es Unterrichtsfächer oder Lehrinhalte, die du – mit Blick in die Zukunft – für weniger notwendig erachtest? Welche sind das? 
(2) Habt ihr im Studium von den exekutiven Funktionen erfahren? Wenn ja, wo? 
(3) Gibt es jemanden, der ein Auslandssemester in Finnland war und berichten kann? Wie war es wirklich? Welche Eindrücke konntest du sammeln? 
(4) Was können wir als angehende Lehrpersonen in Bewegung setzen? Findest du einen Wandel überhaupt notwendig? 

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Literatur 
⌂ Allgöwer, R. (2016): Eisenmann will Sportunterricht stärken. Online: URL: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.unterstuetzung-fuer-sportwissenschaftler-eisenmann-will-sportunterricht-staerken.19404827-7d43-4c4b-ba26-797b6e3830cc.html [Datum der Recherche: 26. März 2019] 
⌂ Arnold, M. (2011): Kinder denken mit dem Herzen. Wie die Hirnforschung Lernen und Schule verändert. Beltz Verlag: Weinheim, Basel. 
⌂ BASF (o.A.): Ernährung weltweit – auf den Landwirt kommt es an. Online: URL: https://www.wichtigster-beruf.de/landwirtschaft/ernaehrung_weltweit/ernaehrung_weltweit.html [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Bullinger, M & Levke Brütt, A. (2018): Lebensqualität und Wohlbefinden. In: Psychologie in der Gesundheitsförderung. Hogrefe: Göttingen. S. 155-167. 
⌂ Brückner, E. (2018): Roboter bei der Feldarbeit. Online: URL: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/roboter-landwirtschaft/- /id=660374/did=21646920/nid=660374/q948k5/index.html [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Kubesch, Sabine (2014): Exekutive Funktionen und Selbstregulation: Neurowissenschaftliche Grundlagen und Transfer in die pädagogische Praxis. Verlag Hans Huber. Bern. 
⌂ Lehtniemi, N. (2016): Die Wahrheit über die finnische Schule. Online: URL: https://finland.fi/de/leben-amp-gesellschaft/die-wahrheit-uber-die-finnische-schule/ [Datum der Recherche: 28. März 2019] 
⌂ Leyh, Arvid (2011): Der Frontallappen. Online: URL: https://www.dasgehirn.info/entdecken/anatomie/der-frontallappen/ [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Manyika, J./ Lund, S./ Chui, M./ Bughin, J./ Woetzel, J./ Batra, P./ Ko, R./ Sanghvi, A. (2017): Jobs lost, jobs gained: What the future of work will mean for jobs, skills, and wages. Online: URL: https://www.mckinsey.com/featured-insights/future-of-work/jobs-lost-jobs-gained-what-the-future-of-work-will-mean-for-jobs-skills-and-wages [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Mittag, W. & Schaal, S. (2018): Schule als Handlungsfeld psychologischer Gesundheitsförderung. In: Psychologie in der Gesundheitsförderung. Hogrefe: Göttingen. S. 479-491. 
⌂ Ministerium für Kultus, Jugend und Sport: Anhang. 4.4 Spiele zur Schulung der exekutiven Funktionen. Online: URL: http://www.bildungsplaene-bw.de/bildungsplan,Lde/Startseite/BP2016BW_ALLG/BP2016BW_ALLG_GS_BSS_ANH [Datum der Recherche: 15. März 2019] 
⌂ Ministry of Education and Culture/ Finnish National Board Of Education / CIMO (Hrsg.) (2016): Das finnische Bildungswesen im Kurzportrait. Online: URL https://www.oph.fi/download/160268_das_finnischebildungswesen_im_kurzportrait.pdf [Datum der Recherche: 28. März 2019] 
⌂ Mortag, I. & Nowosad, I. (Hrsg.) (2012): Qualität des Lebens und Qualität der Schule. Wohlfühlen in der Schule aus der Sicht der Beteiligten. Online: URL: http://www.wnps.uz.zgora.pl/erasmus/files/ksiazka_de.pdf#page=13 [Datum der Recherche: 28. März 2019] 
⌂ Paulus, P. (2014): Psychische Gesundheit. Für eine gute gesunde Schule. Online: URL: https://www.lzg-rlp.de/files/LZG-Shop/Gesundheit%20von%20Kindern%20und%20Jugendlichen_Download/2014- 02_GLL_psychische_gesundheit_bro.pdf [Datum der Recherche: 28. März 2019] 
⌂ Paulus, P. (2017): Psychisch gesund – so geht Schule heute. Online: URL: https://www.barmer.de/blob/124986/1f9eccc256 e074302c4ce348c2f5c650/data/dl-pdf-vortrag-paulus.pdf [Datum der Recherche: 28. März 2019] 
⌂ Roth, G. (2016): Die Bedeutung der Motivation für den Lernerfolg. Online: URL: https://uol.de/fileadmin/user_upload/diz/bilder/Bilder_PW/PW2016/Prof._Dr._Gerhard_Rot h_PW2016.pdf [Datum der Recherche: 28. März 2019] 
⌂ Rötzer, F. (2017): 800 Millionen Jobs sollen weltweit durch Automatisierung verloren gehen. Online: URL: https://www.heise.de/tp/features/800-Millionen-Jobs-sollen-weltweit-durch- Automatisierung-verloren-gehen-3904767.html [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Schaal, S. (2014): Die Revolution hat gerade erst begonnen. Online: URL: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/roboter-in-der-landwirtschaft-kleine-feldroboter-statt-vollautomatischen-maehdreschern/93346882.html?ticket=ST-1843131-ZH4yjjVvC5eVLON9tceJ-ap1 [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Statistica (Hrsg.) (2019): Prognose zur Entwicklung der Weltbevölkerung von 2010 bis 2100 (in Milliarden*). Online: URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1717/ umfrage/prognose-zur-entwicklung-der-weltbevoelkerung/ [Datum der Recherche: 06.März 2019] 
⌂ Süddeutsche (2014): Weltbevölkerung wächst auf 7,3 Milliarden Menschen. Online: URL: https://www.sueddeutsche.de/wissen/demografie-weltbevoelkerung-erreicht-milliarden-menschen- 1.2280805 [Datum der Recherche: 12. März 2019] 
⌂ Walk, L.M. (2011): Bewegung formt das Gehirn. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 1: 27- 29. Bonn. 
⌂ Weltagrarbericht (2016): Bäuerliche und industrielle Landwirtschaft. Online: URL: https://www.weltagrarbericht.de/themen-desweltagrarberichts/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft.html [Datum der Recherche: 12.März 2019] 
⌂ Weniger, E. (1952): Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Beltz: Weinheim. 
⌂ Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (2016): Exekutive Funktionen. Online: URL: http://www.lis-in-bw.de/,Lde/Startseite/Schulsport/Exekutive+Funktionen [Datum der Recherche: 15.März 2019] 

Bildquellen 

⌂ Abbildung 1: https://futurezone.at/b2b/jack-ma-bestaetigt-seinen-ruecktritt-fuer-das-jahr-2019/400113305 [Datum der Recherche: 27. März 2019] 
⌂ Abbildung 2: https://www.naturarzt-access.de/wie-steht-es-um-ihre-kreativitaet/ [Datum der Recherche: 27. März 2019]